Am Weissensee erliegen selbst geschwindigkeitsverliebte Mountainbiker dem Zauber der Entschleunigung. „Es ist immer gut, etwas Langsames zu tun, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft. Die Zen-Mönche setzen sich hin und hören den Felsen beim Wachsen zu. Ich angle lieber“, sagt Paulo Coelho.
„Bremsen auf, Geschwindigkeit stabilisiert!“, ruft ein Vater seinem Sprössling zu, der sich etwas zögerlich auf seinem Bike in eine wurzelige Steilabfahrt vortastet. So forsch es auch klingt – der Mann hat recht: Erst die Geschwindigkeit gibt die nötige Sicherheit, um holprige Passagen zu meistern. Und doch gibt mir diese wohlbekannte Grundregel in diesem Moment zu denken: Geschwindigkeit stabilisiert … beim Mountainbiken bestimmt, aber im Leben? Hier, am südlichsten Rand Kärntens, mitten auf dem Weissenseetrail, kommt es mir auf einmal so vor, als würde ich meinen kompletten Alltag mit dieser Regel bewältigen wollen.
„Hallooo???“, weckt mich mein Kumpel aus meinen Tagträumen auf und bringt mich damit zurück auf den Trail. Der Weissensee ruft mit seinem 25 Grad warmen Wasser, also lassen auch wir es wieder laufen und machen uns über den wunderbar griffigen Waldboden her, der uns und unsere Bikes durch den Märchenwald trägt. Die Erbauer dieses Kunstwerks haben ganze Arbeit geleistet – auf 3,5 Kilometer Länge haben sie dem moderaten Gefälle einen abwechslungsreichen, äußerst naturnahen Singletrail entlockt, auf dem sowohl der Nachwuchs als auch Könner auf ihre Kosten kommen.
Unten angekommen, fallen wir uns glücklich in die Arme, klatschen uns ab, erzählen keuchend die besten Passagen nach. Obwohl wir schnell unterwegs waren, scheint die Zeit doch langsamer vergangen zu sein – fast ist sie stehen geblieben in jenen Momenten, in denen es nur noch den Weg vor und das Bike unter uns gibt.
Ein See, versteckt wie ein Geheimnis
Zeit, Geschwindigkeit, Entschleunigung – es ist kein Wunder, dass man ausgerechnet am Weissensee in romantische Schwärmereien verfällt. Der fjordartige See versteckt sich wie ein Geheimnis auf über 900 Meter Höhe am Rande der Gailtaler Alpen. Trotz seiner abgeschiedenen, idyllischen Lage (oder gerade deshalb?) ist der See vor dem großen Touristenansturm verschont geblieben. Zwei Drittel des Ufers sind nicht verbaut, das Wasser hat Trinkwasserqualität. Die Straße nach Praditz ist eine Sackgasse – von hier geht es noch zu sechs weiteren Ortschaften am See, in denen insgesamt nur knapp 800 Menschen leben, dann ist Schluss – die langgezogene Ostseite des Sees ist ausschließlich zu Fuß, mit Bike oder Ruderboot zu erreichen, selbst Motorbote sind tabu. Keine Autos. Kein Lärm. Keine Hektik.
Doch im Gegensatz zum Gesamteindruck scheinen ausgerechnet für die Mountainbiker die Uhren am Weissensee schneller zu ticken als in so manch anderem österreichischen Urlaubsort. Der Weissenseetrail ist Teil eines größeren Projektes. Bereits im Sommer 2018 wurden zwei weitere Singletrails mit jeweils drei Kilometer Länge eröffnet – eine vielversprechende Aussicht, wenn diese ähnlich liebevoll wie der bereits bestehende Weissenseetrail angelegt sind. Davon ist Peter Schwarzenbacher und Michael Eder, beide Hoteliers von „Mountain Bike Holidays“ überzeugt. Sie haben die Entwicklung mit vorangetrieben und sich für den Bau der Trails eingesetzt. Sie sind auch dafür verantwortlich, dass der Weissensee in der Bikeszene immer öfters von sich reden macht. Sie organisieren Camps mit prominenten Guides oder laden Journalisten großer Magazine ein und bieten Tourenberatung aus erster Hand. Möglich macht das auch die Toleranz, die man Bikern hier entgegenbringt: Mountainbiker sind hier willkommene Gäste und von allen gern gesehen. Die Einwohner kennen sich untereinander, jeder kennt Peter und seine Gäste – wer also sollte gegen die etwas haben?
Nachdem uns Schwarzenbacher stolz die Berichte über seine Heimat in den großen Mountainbike-Magazinen gezeigt hat, werden wir fast schon überrumpelt von der Stille, die uns am ersten Morgen empfängt. Als wir die Brücke überqueren, die von Techendorf über den See führt, um zur Naggler-Alm-Runde zu gelangen, ruht die Wasseroberfläche glatt wie ein Spiegel. Ein alter Mann sitzt bewegungslos in seinem kleinen Boot, seine Angelschnur führt wie ein Spinnenfaden in das kristallklare Wasser. Im Hintergrund werden die an den See grenzenden Berge von dichtem Nebel verschluckt. Ein Sonnenstrahl bricht durch die dichte Wolkendecke und taucht das ferne Ostufer kurz in verheißungsvolles Licht. Das Bild zieht uns in seinen Bann, minutenlang genießen wir die Ruhe.
Die Stimmung färbt auf unsere Tour ab. Schon fast im Schritttempo schleichen wir gemächlich die Straße bis nach Naggl entlang, wo unser Anstieg in den Nebel beginnt. Aber selbst der ist auf einmal schneller als wir und verzieht sich, wodurch sich uns eine immer bessere Aussicht offenbart, je höher wir kommen. Zwischen den flechtenbehangenen Fichten blitzen das Weiß und Türkis des seichten Ufers hervor und bilden einen ungewohnten Kontrast zum satten Dunkelgrün des Waldes. Wir bleiben mehr als einmal stehen. Gut, dass wir uns für diesen Tag nicht viel vorgenommen haben: Nur wenige Kilometer sind es bis zur Naggler Alm, von wo aus der Weissenseetrail startet – genau jener Trail, auf dem sich beim Bremse-Auflassen bergab so leicht die Zeit anhalten lässt.
Naturpark Weissensee